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Weiterbauen, bald erste Option?

Zur Verdichtung der Wohnfläche sind ressourcenschonende Strategien gefragt. Allerdings wurde in den letzten Jahren sehr viel Neues gebaut. Nun scheint ein Umdenken stattzufinden: Konzepte zum Weiterbauen finden besseres Gehör – aus ökologischen und sozialen Gründen.

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4058 Basel, Schweiz

Die Angst vor Leerkündigungen geht um. Seit Wochen liefern Regionalzeitungen und nationale Newsportale neue Schlagzeilen, sobald irgendwo eine Wohnsiedlung abgebrochen und erneuert werden soll – und die Mieterschaft deswegen ausziehen muss. Fachleute beklagen dabei meistens einen mehrfachen Verlust von sozialer Heimat, preisgünstigem Wohnraum und wertvollen Ressourcen. «Leerkündigungen sind ein Dilemma und provozieren unangenehme Situationen», urteilt auch die Zürcher Kantonalbank (ZKB). Doch eine interne Analyse zeige, dass die Situation auf dem Immobilienmarkt weniger dramatisch sei als vermutet: «Das Ausmass hält sich im Rahmen und blieb in den letzten Jahren konstant», berichtete die ZKB auf ihrem eigenen Blogkanal. Zudem seien fast nur grosse Städte und einzelne Tourismuszentren davon betroffen. Positiver von sich reden machen angekündigte Umbauten dagegen, wenn die Mieterschaft in die Planung einbezogen wird. So plant die Helvetia-Versicherung in Zürich-Nord zwar einen Abbruch mit Ersatz von über 300 Wohnungen. Doch die langjährige Mieterschaft darf mit Vorzugsrecht und zu günstigeren Konditionen wieder am selben Standort einziehen.

Mit ökologischem Anliegen kombiniert
Ein sozialverträgliches Vorgehen, das auch ökologische Anliegen berücksichtigt, wurde derweil in Genf gewählt. Zwei städtische Wohnblocks wurden unter der Auflage, die Baukörper stehen zu lassen, energetisch deutlich verbessert und die Wohnflächen zusätzlich erweitert. Der Umbau fand vor fünf Jahren statt; seither erfolgt die Energieversorgung vor Ort CO2-arm mit Fernwärme und Photovoltaik. Ebenso sorgfältig ging die Bauherrschaft, die Stadt selbst, mit der Bewohnerschaft um. Die über 300 Wohnungen mussten nur für knapp sechs Wochen geräumt werden. Danach zogen alle Mieterinnen und Mieter wieder ein. Denn die Wohnpreise verblieben auf dem vorhergehenden Niveau. Der Wohnungsfonds des Stadtkantons finanzierte dieses umfassende Sanierungsprojekt vollumfänglich.

Auch Private liefern Vorbilder
Dass private Liegenschaftsbesitzer den Umbau im bewohnten Zustand einer Leerkündigung vorziehen, bewies die AXA-Versicherung in Aarau. Sie sanierte einen Teil der Grossüberbauung Telli. Neben der Verbesserung der Gebäudehülle konnten die Wohnflächen vergrössert werden. Dafür erforderlich war ein Fassadenersatz, währenddem die über 1200 Mieterinnen und Mieter jeweils für zwei Wochen temporär aussiedelten. Hier kamen drei Viertel wieder zurück; bei Mietzinserhöhungen von durchschnittlich 30 Prozent. Das Bundesamt für Energie, das energetische Gebäudesanierungen mit sozialverträglichem Ansatz empfiehlt, kürte die Telli-Sanierung vor drei Jahren zum Vorbild für die private Immobilienwirtschaft. Dementsprechend ist das Projekt als Referenzbeispiel auf der Webseite Locabene.ch dokumentiert.

Lokales Gefüge nicht stören
Beim Umgang mit der gebauten Substanz und der Bewohnerschaft finde ein Umdenken unter Immobilieninvestoren statt, bestätigt Julia Selberherr, Partnerin bei der Beratungsfirma Wüest Partner. «Die Bedürfnisse vor Ort werden stärker beachtet, um das funktionierende Gefüge nicht zu stören.» Zudem stellten abrupte Wechsel durch Ersatzneubau oder Leerkündigung ein unwägbares Geschäftsrisiko dar. Demgegenüber lassen sich soziale mit ökologischen Anliegen immer besser kombinieren. «Institutionelle Bauträgerschaften nehmen durchaus Abstriche an der Renditeerwartung in Kauf», ergänzt Immobilienexpertin Selberherr. Aber gibt es auch den Fall, dass Weiterbauen am Bestand wirtschaftlich besser ist als Abriss und Ersatz? Tatsächlich kann eine Gebäudeaufstockung zur ersten Wahl unter verschiedenen Erweiterungsoptionen werden. Vorausgesetzt, die Erweiterungsfläche ist ebenso gross wie bei einem Ersatzneubau, kostet eine Aufstockung weniger, und auch die CO2-Bilanz fällt geringer aus. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie von Wüest Partner im Auftrag des Bundesamts für Umwelt und des nationalen Holzwirtschaftsverbands Lignum. Einander gegenübergestellt wurden die Weiterbauvarianten für ein real existierendes Wohnhaus im städtischen Umfeld, das inzwischen aufgestockt anstatt abgerissen und ersetzt wurde. Auch für die Mieter ergaben sich daraus wertvolle Nebeneffekte: Die Wohnkosten stiegen geringfügig und der Baumbestand im Aussenraum blieb sogar vollständig erhalten.

Neue Sorgfaltsregeln
Das positive Beispiel als generelle Erkenntnis verkaufen, möchte Selberherr aber nicht: «Es gibt kein Patentrezept für die nachhaltige Weiterentwicklung von bestehenden Liegenschaften.» Dennoch wird eine Regel nun häufiger befolgt: Bauherrschaften wenden sich von vorschnellen Entscheiden zum Abbruch ab und lassen lieber die möglichen Varianten im Voraus überprüfen. «Erst bei sehr gewichtigen Argumenten wird ein Ersatz gutgeheissen», weiss Julia Selberherr. Insofern wird das Erhalten von Gebäudestand das Bauen auf der grünen Wiese schon bald als Standardfall ablösen. Wahrscheinlich ist deshalb, dass auch Leerkündigungen zu einem Auslaufmodell für Immobilieninvestoren werden.

Telli nach Sanierung

Die Telli-Grossüberbauung in Aarau nach der umfassenden Sanierung: Die Balkonschicht wurde vollständig ersetzt, aber ist der Ursprungsversion architektonisch nachempfunden. (Bauherrschaft: AXA Versicherung; Architektur: Meili Peter & Partner Architekten) © Sophie Stieger

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Die Marktanalyse von Wüest Partner kündigt ein Wachstum der Hochbauinvestitionen an, das einem Zuwachs im Umbausegment zu verdanken ist. © Wüest Partner



Im Swissbau Focus, der Veranstaltungsplattform an der Swissbau 2026, werden die aktuellen Herausforderungen und Chancen der Bau- und Immobilienwirtschaft entlang der vier Leitthemen präsentiert und diskutiert.

Leitthema 1: Das Potenzial des nachhaltigen Bauwerks
Nachhaltige Bauwerke zeichnen sich durch hohe ökologische, ökonomische und soziokulturelle Qualitäten aus. Neue Vorgaben in der Beschaffung, intelligente Technologien, innovative Materialien sowie neue Ansätze im Betrieb bieten grosse Chancen über den ganzen Lebenszyklus. Wie müssen wir Gebäude und Infrastruktur entwerfen und bauen, um diese Potenziale effektiv zu nutzen?

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Paul Knüsel

Paul Knüsel

Faktor Journalisten
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