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«Bei der sozialen Nachhaltigkeit geht es immer um eine gute Verteilung»

Neben Ökologie und Ökonomie rückt die soziale Nachhaltigkeit beim Bauen langsam in den Fokus. Wie eine Überbauung sozial nachhaltig wird und was Bauherrschaften und Planende beachten müssen, weiss die Soziologin Dr. Joëlle Zimmerli.

Wann ist eine Überbauung oder ein Quartier sozial nachhaltig?

Wenn die Überbauung zur Versorgung von breiten gesellschaftlichen Schichten und verschiedenen Altersgruppen und Haushaltsformen mit Wohnraum beiträgt. Und wenn sie ein konfliktarmes Zusammenleben ermöglicht.

Woher weiss ich, dass das Gebäude oder Quartier auch wirklich nachhaltig, also längerfristig sozial funktioniert?

Die nachhaltige Wohnraumversorgung misst sich vor allem im Betrieb: Werden bei der Vermietung von günstigen Wohnungen jene Personen berücksichtigt, die weniger Einkommen haben? Werden bei der Vermietung von hindernisfreien Wohnungen auch Senioren angesprochen und berücksichtigt? Werden bei der Vermietung von 4-Zimmerwohnungen Familien priorisiert?

Ob eine Siedlung oder ein Quartier sozial nachhaltig funktioniert, zeigt sich in der Bewirtschaftung: Gibt es übermässig viele Reklamationen wegen Nachbarn? Bewerben sich bestimmte Zielgruppen nicht mehr aufgrund der sozialen Gruppen, die in der Überbauung wohnen? Kommt es mit dem Wiedervermietungsprozess zu einer so starken Homogenisierung der Mieterschaft, dass andere soziale Gruppen nicht mehr als Mieter akzeptiert werden?

Wie kann man soziale Nachhaltigkeit messen oder bewerten?

Es gibt Kennzahlen, die hart messbar sind, wie beispielsweise die erwähnten Vermietungsthemen oder auch die Zufriedenheit mit der Wohnung, der Nachbarschaft und der Liegenschaftsverwaltung. Andere Kriterien kann man nur mit Checklisten erfassen, beispielsweise Massnahmen für das Zusammenleben in der Nachbarschaft und im Quartier, der Beitrag zur Quartierversorgung oder zu sozialverträglichen Entmietungsprozessen.

Aber: Im Gegensatz zur Ökologie geht es bei der sozialen Nachhaltigkeit immer um eine gute Verteilung. Soziale Nachhaltigkeit funktioniert nicht nach dem Prinzip «je mehr oder je weniger, desto besser». Wohnsiedlungen, die nur preisgünstige oder nur Familienwohnungen haben, sind nicht unbedingt sozial nachhaltigere Gebäude – die Balance muss stimmen. Es muss auch nicht jedes Gebäude alle Kriterien im gleichen Mass erfüllen. Einzelne Gebäude können durchaus sozial homogener oder heterogener ausgerichtet sein. Entscheidend ist die soziale Nachhaltigkeit im Portfolio einer Eigentümerin oder im Quartier. Hier muss das Wohnungsangebot ausgewogen sein.

Welche Konsequenzen hat es, wenn ich die soziale Nachhaltigkeit bei der Planung hintenanstelle oder gar ganz aussen vorlasse?

Grundsätzlich ist die soziale Nachhaltigkeit in der Betriebsphase sehr viel wichtiger als in der Planungsphase. Fast jedes Gebäude, egal ob neu oder bestehend, kann mit einer guten Bewirtschaftung sozial nachhaltig «gemacht» werden.

Das grosse gesellschaftliche Thema in der öffentlichen Debatte ist der Zugang zum Wohnungsangebot. Die Wohnraumversorgung findet über die Vermietung und das Zusammenleben im Betrieb statt. Nur ein verschwindend kleiner Teil des Bestands wird neu gebaut. Mit der baulichen Verdichtung im Bestand nehmen allerdings sozialverträgliche Erneuerungsprozesse an Bedeutung zu – und diese zählen zur Planungsphase. Finden Neubau-, Sanierungs- und Ersatzbauprojekte keine Akzeptanz, wird die Wohnraumschaffung blockiert.

Mit der Projektentwicklung können zudem gute Voraussetzungen für sozial nachhaltige Gebäude geschaffen werden, etwa durch einen passenden Wohnungsmix, der die Angebote im Quartier oder Portfolio ergänzt oder eine sinnvolle Preisgestaltung, die Menschen mit unterschiedlichen Portemonnaies Zugang zum Wohnraum bietet. Wichtig sind auch Gebäudetypologien und Freiräume, die das Zusammenleben fördern, seien sie begegnungsfördernd oder auf ein gutes Nebeneinander ausgerichtet. Erdgeschossräume sollen, wenn möglich und sinnvoll, Treffpunkte – kommerziell oder nicht kommerziell – schaffen.

Was müssen Bauherrschaften und Planende bei der Entwicklung und Planung beachten, um gute Voraussetzungen für ein sozial nachhaltiges Projekt zu schaffen?

Der Wohnungsmix und die Preisgestaltung müssen zum Ort und zum Portfolio der Eigentümerin passen und die erwünschten Nutzungen ermöglichen. Wo und welche Art von Begegnungen und Rückzugsmöglichkeiten stattfinden sollen, hängt von der Nachfrage sowie von den Möglichkeiten der Investorin und Eigentümerin ab. Da die soziale Nachhaltigkeit vor allem im Betrieb zum Tragen kommt, ist der Einbezug von Facility Management (FM) und Bewirtschaftung in den Planungsprozess sehr wichtig. Passt das Raumangebot nicht oder schränken Architektur und Freiraumplanung den Gestaltungsspielraum im Betrieb zu sehr ein, kann das zu zeitlichem Mehraufwand für FM und Bewirtschaftung sowie zu höheren Unterhalts- und Betriebskosten führen. Oder Räume sind schlecht nutz- und vermietbar.

Welche Zielkonflikte gibt es mit anderen Aspekten der Bauplanung und der Immobilienwirtschaft?

Es geht immer um Prioritäten: Manchmal führt mehr Ökologie zu weniger sozialer Nachhaltigkeit: Je mehr in die Erneuerung von Gebäudehüllen, in Haustechnik, erneuerbare Energie oder aufwändige Zertifizierungen investiert wird, desto höhere Kosten müssen auf die Mietpreise umgewälzt werden. Je rationaler Gebäudekuben werden, desto weniger Aneignungsräume entstehen für die Bewohnerinnen. Auch die soziale und die wirtschaftliche Nachhaltigkeit müssen abgewogen werden: Wie viele Mittel stehen in welcher Wohnsiedlung für Massnahmen zur Verfügung? Welche Massnahmen haben die grösste Hebelwirkung? Die grössten Hebel der sozialen Nachhaltigkeit kosten allerdings nichts, wie die Planung des Wohnungsmixes, klare Vorgaben zur Vermietung und die Bereitstellung niederschwelliger Begegnungs- und Rückzugsräume.

Wer ist für die soziale Nachhaltigkeit eines Gebäudes oder Quartiers verantwortlich?

Die wichtigste Akteurin ist die Eigentümerin, und dort ist es das Asset Management, das eine gute Bestellung für die Projektentwicklung, die Vermarktung und die Bewirtschaftung machen muss und die Verantwortung für einen sozialverträglichen Erneuerungsprozess trägt. In der Projektentwicklung muss das Asset Management sicherstellen, dass FM und Bewirtschaftung einbezogen werden. Architekten können einen Beitrag leisten, indem sie sich als Dienstleister verhalten und ihre Projekte mit der und für die Auftraggeberin entwickeln, anstatt ihre eigenen Nutzungs- und weitere Ideen durchzusetzen. Verfahrensbegleitende Büros können dazu beitragen, dass beispielsweise die «Nutzung» in Jurys mit Stimmberechtigung vertreten ist.

Welche Rahmenbedingungen gibt oder braucht es, um die soziale Nachhaltigkeit zu fördern?

Wichtig ist, dass politische und rechtliche Rahmenbedingungen bei Sondernutzungsplanungen darauf ausgerichtet werden, dass ein wirtschaftliches Gleichgewicht bei der Berücksichtigung sozialer Aspekte möglich ist. Wenn zu viel geknebelt und gefordert wird, werden keine Sondernutzungsplanungen mehr gemacht und damit weniger soziale Anliegen umgesetzt.

Politische und rechtliche Rahmenbedingungen sollten nicht darauf ausgerichtet werden, nur diejenigen zu schützen, die bereits in einer Wohnung wohnen, sondern auch jene berücksichtigen, die umziehen, etwa wegen Familienzuwachs oder dem Älterwerden, oder weil sie von einem anderen Ort zuziehen möchten. Eine angemessene Fluktuation ist Zeichen eines gesunden – und sozial nachhaltigen – Wohnungsmarktes: Menschen passen ihre Wohnsituation veränderten Bedürfnissen an und haben Zugang zum Wohnungsangebot. Sobald Regulierungen dazu führen, dass Menschen in ihren Wohnungen «sitzen bleiben», weil es sich nicht mehr lohnt umzuziehen, oder weil es nicht mehr möglich ist, zu vernünftigen Bedingungen umzuziehen, nimmt die soziale Nachhaltigkeit ab.

Welche sind die gravierendsten Fehler bei der Bauplanung bezüglich der sozialen Nachhaltigkeit?

Im engen Sinne der Bauplanung ist es zum einen ein schlechtes Angebot bezüglich Wohnungsmix und Wohnflächen. Zum anderen durch die Architektur erzwungene Begegnungen oder Einblicke in die Wohnungen, welche die Privatsphäre stark einschränken. Das können beispielsweise Laubengänge sein, die an Wohnungen mit raumhohen Fenstern vorbeiführen. Beides ist im Betrieb praktisch nicht mehr korrigierbar.

 

Fachtagung zu sozialer Nachhaltigkeit

Am 28. September führen Joëlle Zimmerlis Planungsbüro Zimraum und das Swiss Real Estate Institute der Hochschule für Wirtschaft Zürich die Fachtagung «Soziale Nachhaltigkeit im ESG messen – worum geht es?» durch. Die Fachtagung beleuchtet, was das ESG-Reporting für das Portfolio- und Assetmanagement bedeutet. Ausserdem werden erste Erkenntnisse aus einem Pilotprojekt mit einem neuen Kennzahlenset vorgestellt.

Weitere Informationen, das Programm und den Link zur Anmeldung gibt es hier.

Dr. Joëlle Zimmerli ist Inhaberin von Zimraum, einem sozialwissenschaftlichen Planungs- und Entwicklungsbüro in Zürich. Sie ist promovierte Soziologin und berät, lehrt und forscht auf diesem Gebiet. (Foto: zVg)

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Sozial nachhaltige Wohnsiedlung: In der Stadtsiedlung Reitmen in Schlieren befinden sich rund 185 Mietwohnungen, teilweise im preisgünstigen Segment, für unterschiedliche Bedürfnisse und Lebenskonstellationen. (Bauherrschaft: Anlagestiftungen Turidomus und Adimora, Projektentwicklung: Pensimo Management AG, Bewirtschaftung: Regimo Zürich AG, Foto: Seraina Wirz, afaf.ch)

Die Stadtsiedlung Reitmen bietet den Bewohnerinnen und Bewohnern vielfältige Treffpunkte und Aussenräume, darunter Mietergärten, Spielplätze, einen Grillplatz und ein Auenwäldchen, Gemeinschaftsräume sowie einen Siedlungscoach für die Anfangsjahre. (Architektur: Haerle Hubacher Partner Architekten und Steib Gmür Geschwentner Kyburz Architekten & Stadtplaner, Landschaftsarchitektur: Raderschallpartner AG, Foto: Seraina Wirz, afaf.ch)