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«Es bleibt nicht viel Zeit – packen wir es an!»

Unter welchen Bedingungen gelingt die Transformation unserer Gesellschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit? Und was muss die Bauwirtschaft tun, um auch künftig erfolgreich zu sein? Ein Interview zum Thema Transformation mit Dr. Björn Müller.

Dr. Björn Müller ist Dozent an der Universität St. Gallen und Mitgründer von Meso, einer Allianz für systemische Innovation.

Welches sind die grössten Herausforderungen, die in den nächsten Jahren auf unsere Gesellschaft zukommen werden?
Björn Müller: Schon heute haben wir mit den riesigen Baustellen der fünf «D» zu tun: Dekarbonisierung, (Bio)Diversität, Digitalisierung, Demokratie, Demographie. Dazu kommt ein die Weltordnung bedrohender Krieg in unserer Nachbarschaft mit Potenzial für einen Flächenbrand. Von der Pandemie ganz zu schweigen. Es sind grosse Themen, und sie sind in vielem miteinander verbunden. Das macht es nicht einfacher.

In wenigen Sätzen: Was muss man sich unter gesellschaftlicher Transformation vorstellen?
Gesellschaftliche Transformation meint den bewussten und gewollten Wandel von alltäglichen, meist gewohnheitsmässigen Arten und Weisen wie wir zum Beispiel bauen, wohnen, reisen, Nahrungsmittel erzeugen oder essen. Wieso? Weil wir so nicht weitermachen können. Unsere Art zu leben gefährdet inzwischen nach nur zwei bis drei Generationen, also gut 150 bis 200 Jahren, die Lebensgrundlage der gesamten Menschheit. Es geht also um die Frage, wie ganze Gesellschaften auf demokratische Art und Weise den Wandel hin zu einer klimagerechten Lebens- und Arbeitsweise gestalten können. Ob dies überhaupt gelingen kann, ist unsicher. Eine solche Herausforderung gab es bislang noch nie. Das Problem dabei: «die Menschheit» oder «die Gesellschaft» ist kein handlungsfähiges Subjekt. Also sind wir alle gefragt, wie wir dazu beitragen können, dass es für uns, unsere Kinder und möglichst alle Menschen die Chance auf ein gutes und gerechtes Leben im Rahmen planetarer Grenzen geben wird.

In welche Richtung muss sich denn unsere Gesellschaft verändern?
Wir sind mitten in einer Zeitenwende. Ein Teil davon ist «natürlicher Wandel». Vielleicht könnte man sagen, dass mit dem Tod der Queen, die wie niemand sonst über die letzten 70 Jahre eine Konstanz verkörpert hat, die ab den 1980er-Jahren zunehmend instabilere Nachkriegsepoche zu einem Ende kommt. Dazu kommen zwei fundamentale Bedrohungen: Neue Imperialismen recken ihre Häupter und stellen die Welt(wirtschafts)ordnung in Frage. Schon im Rahmen der Pandemie war spürbar, dass Abhängigkeiten von globalen Lieferketten und fossilen Energieträgern wirtschaftlich und politisch gefährlich sind. Dazu bröckelt eine Säule unserer Demokratien: Demokratische Gesellschaften funktionieren durch den Glauben an Fortschritt und ein Wachstum, das vor allem durch technische Innovationen für immer mehr Menschen ein immer besseres Leben verspricht. Doch die Energiekrise und der Klimawandel lassen keinen Zweifel, dass unsere auf fossile Energie gestützte Lebens- und Wirtschaftsweise nicht zukunftsfähig ist. Die Richtung der Transformation ist teilweise durch wissenschaftlich fundiertes, politisch legitimiertes und quantifizierbares Zielwissen – beispielsweise durch das internationale 1,5 Grad Ziel, nationale oder regionale Klimaziele – vorgegeben. Teilweise ist aber nicht nur der Weg, sondern auch das Ziel selbst noch Aushandlungssache, beispielsweise bei Themen wie Digitalisierung und Automatisierung oder alternde Gesellschaft.  

Transformation bedingt, dass wir unsere Verhaltensweisen ändern. Der Mensch ist aber ein Gewohnheitstier. Wie geht das zusammen?
Genau hier liegt das Problem und vielleicht auch ein Teil der Lösung. Nicht das individuelle Verhalten, sondern eben alltägliche Gewohnheiten, sogenannte soziale Praktiken, stehen im Mittelpunkt der Transformationsbemühungen. Als Beispiel erzähle ich gerne, wie in Bogota, Kolumbien, Fahrradfahren als neue soziale Gewohnheit entstanden ist. Vor zwanzig Jahren fuhr kein Mensch dort Fahrrad. Als die Stadtregierung sich entschloss aktiv zu werden, startete man klassisch mit Aufklärungskampagnen. Schnell war klar, dass es dazu Infrastrukturmassnahmen in Form von Velowegen brauchte. Dann erkannte man, dass kaum jemand Velo fahren kann, weil es die wenigsten als Kind gelernt hatten. Also musste man Trainingsmöglichkeiten und Verleihstationen anbieten. Noch immer war das Resultat mager. Es wurden Influencer mobilisiert, um für das Velofahren zu werben. Als dann an Wochenenden attraktive Teile der Innenstadt nur für Fussgänger und Velofahrer zugänglich waren, kam Bewegung in die Sache.

Gesellschaftliche Transformation bedeutet also vor allem, dass sich die oft unsichtbaren Voraussetzungen und Bedingungen für unsere nicht-nachhaltigen Gewohnheiten verändern. Dabei hat sich gezeigt, dass Wissen eben nur eine geringe Rolle spielt, es aber umso bedeutsamer ist, wie sich über die Veränderung von Standards und (technologischer) Infrastruktur die Grundbedingungen verändern lassen, wie durch neue Narrative, positive Vorbilder und schliesslich auch relevante Anreize, beispielsweise finanzieller Art, wichtige Motivationen für eine Veränderung geschaffen werden, und wie Menschen durch ganz konkrete Skillsvermittlung befähigt werden können, Dinge im Alltag anders zu tun. Es braucht, was meine Kollegen und ich den Zukunfts-DEAL nennen: das Zusammenspiel von Anstrengungen und Massnahmen im Bereich Design (Infrastruktur), Empowerment (Training), Awareness (Wissen und Einstellungen) und Legitimierung (neue Gesetze, Standards und Normen).

Angesichts des Klimawandels und seinen Folgen ist es klar, dass wir künftig nachhaltiger leben müssen. Wo muss man ansetzen, damit hier eine Transformation stattfindet?
Hier geht es aus Transformationssicht um die Verbindung von «oben» und «unten», sowie «vorne» und «hinten»: «Oben» meint die Ebene von Politik, Gesetz und Populärkultur. In der Wirtschaft genauso wie für uns Bürger:innen braucht es gesetzliche Grundlagen und Anreize für nachhaltige Arbeits- und Lebensweisen. Rechtlich sollten wir die Natur besser schützen und, wie in anderen Ländern zum Teil inzwischen möglich, für ihre «juristische Waffengleichheit» sorgen. Warum soll der Aletschgletscher juristisch schlechter gestellt sein als eine Aktiengesellschaft, die eine juristische Person ist? Weiter müssten staatliche Investitionen, das Beschaffungswesen und zum Beispiel auch Pensionskassen an nachhaltigen Kriterien ausgerichtet werden. Aus popkultureller und künstlerischer Sicht gilt es positive Erzählungen über Nachhaltigkeit zu entwickeln. Vielleicht muss der oft technische und sperrige Begriff der Nachhaltigkeit wie einst «die Freiheit» erst noch als Sehnsuchtsbegriff aufgeladen werden. «Unten» meint dann das Zeigen, Bewerten und Fördern von Pionier:innen. Es gibt schon so viele gute Ansätze und Vorzeigeprojekte, wir müssen aber noch besser aufzeigen, auch durch Begleitforschung und entsprechende Daten, wie nachhaltige Lebens- und Arbeitsweisen funktionieren. «Hinten» meint die grosse Bedeutung der Produktionsseite: Nachhaltige Liefer- und zirkuläre Wertschöpfungsketten müssen gefördert und gefordert werden, und zwar von «oben», der Politik, und von «vorne», das heisst von den Konsument:innen, die durch ihre Kaufentscheidungen einen kleinen Einfluss haben. Jeder und jede hat darüber hinaus die Möglichkeit über bewusste Entscheidungen in den Bereichen Essen, Fashion, Mobilität, Wohnen und Investment nachhaltigere Optionen zu wählen und den eigenen Fussabdruck zu minimieren.

Was bedeutet das für jedes Individuum? Verzicht?
Das kann ich nicht für alle sagen. Für mich und viele Menschen, die ich kenne, bedeutet es zunächst eine Frage des Realismus. Wenn ich der unbequemen Wahrheit ins Auge schaue, sehe ich, dass unsere derzeitige Lebens- und Wirtschaftsweise unrealistisch ist. Die planetaren Belastungsgrenzen sind auf vielen Ebenen schon längst überschritten. Ist es Verzicht, wenn ich nicht mehr mitmachen möchte, wie wir, bildlich gesprochen, kollektiv und fortlaufend «die Bank plündern»? Der «Earth Overshoot Day» bewegt sich weltweit seit der Einführung nach hinten, in diesem Jahr war es der 28. Juli, an dem die Ressourcen für den Rest des Jahres aufgebraucht waren. Die Menschheit verbraucht 75 Prozent mehr Ressourcen als die Ökosysteme regenerieren können. Wenn alle Menschen wie wir in der Schweiz leben würden, dann bräuchten wir 2,8 Planeten.

Meiner Meinung nach braucht es einen neuen Realismus, und der ist damit verbunden, sich die Krise anzueignen. In den letzten dreihundert Jahren haben wir unseren Reichtum auf Kosten anderer erschaffen, doch diese «anderen», ob Ökosysteme oder auch andere Menschen, sind nicht mehr länger stumm oder unsichtbar. Einigen steht das Wasser bis zum Hals, anderen versiegt es langsam. Jetzt ist es wichtig, dass es nicht (ganz) katastrophal und traumatisch wird. Und gleichzeitig, dass wir die enormen Chancen der notwendigen Veränderungen sehen. Überdies brauchen wir Ideen und Vorbilder für einen neuen Reichtum, der mit einer ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltigen Lebens- und Arbeitsweise einhergehen kann – vielleicht ein Zeitreichtum, ein Reichtum an lebendigen Beziehungen, ein Sinnreichtum. Dies ist übrigens kein neuer Gedanke. Fortschritt und die Entfesselung der menschlichen Produktivität waren für viele bedeutende, bürgerliche Ökonomen des 19. Jahrhunderts bis zum grossen John Maynard Keynes nie ein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um uns mehr Lebenszeit zu ermöglichen und uns freizusetzen für höhere Tätigkeiten, für menschliche Begegnungen, Spiel, Naturgenuss, Kontemplation.

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten künftigen Herausforderungen für die Baubranche?
Steigende Energiepreise, schwindende Margen, Silodenken und ausgeprägte disziplinäre Logiken im standardisierten, sequentiellen Bauprozess, ein unsicheres politisches Umfeld, ein unklares Kundenumfeld.

Aus Transformationssicht gilt für die Baubranche ähnliches wie für andere Branchen:
Hebel: Welche Bereiche der Baubranche haben für die Energie- und Ressourcenfrage den potenziell grössten Impact und Hebel? Hier geht es dann schnell um Material-, Prozess-, und Recyclingfragen. Insight: Wie finden wir heraus, auf was Kunden jetzt schon und dann in Zukunft besonderen Wert legen respektive auf was sie (nicht) bereit wären zu verzichten?
«Professionelle Schizophrenie»: Wir müssen das Spannungsverhältnis von Konkurrenz und Kollaboration professionalisieren. Auf der einen Seite gilt es, die Effizienzschraube weiter zu drehen, etwa bei den Materialien, vor allem aber durch digitale Transformation. Auf der anderen Seite gilt es branchenübergreifend Raum und Ressourcen für die Innovations- und Transformationsarbeit an gemeinsamen Herausforderungen zu schaffen und gemeinsam zu lernen, etwa durch Pilotprojekte, Reallabore und ähnliches.
Gesetzlicher Rahmen: Die Branche braucht von der Politik verlässliche gesetzliche Rahmen, Vorgaben und Anreize und muss diese möglicherweise selber noch stärker einfordern, teilweise auch nach dem Motto «Protect us from what we want».   

Reicht allein eine Verhaltensänderung? Braucht es nicht auch neue Technologien
Unbedingt. Automatisierung wird noch wichtiger werden für die Effizienzfrage. Smart Building braucht eine entsprechende technologische Infrastruktur und Kompetenzen. Dezentralisierung und gleichzeitige Vernetzung (durch IoT) wird wichtig für Kreislaufsysteme und transparente Lieferketten.

Welche Chancen bieten sich der Bauwirtschaft durch die Digitalisierung und ressourcenschonenderes Bauen?
Riesige Chancen. Von der wirtschaftlichen Seite her geht es um effizientere Prozesse und neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Wertschöpfung entlang des kompletten Lebenszyklus eines Gebäudes. Dies sind gesamtgesellschaftlich und verantwortungsseitig wiederum Grundlagen, um «Teil der Lösung» zu werden.

Was schätzen Sie, wie lange wird es dauern, bis sich unsere Gesellschaft einen ressourcenschonenderen Lebensstil verinnerlicht hat?
Das hängt meiner Meinung nach von der Geschwindigkeit und Heftigkeit der sich kumulierenden Krisen ab. Wenn es bei uns noch länger relativ ruhig bleibt, dann kann es Jahrzehnte dauern. Die Wissenschaft sagt uns, dass wir für die Klimafrage nicht viel Zeit haben. Manche reden von zehn Jahren. Das sind, wenn man Urlaub und Krankheit abzieht etwa 450 Arbeitswochen. Nicht viel Zeit… packen wir es an!

Björn Müller ist Keynote-Speaker am Swissbau Innovation Lab on Tour, das am 17. November 2022 im internationalen Kompetenzzentrum uptownBasel in Arlesheim stattfindet. 

Wie können wir dazu beitragen, dass es für uns und unsere Nachkommen ein gutes und gerechtes Leben im Rahmen planetarer Grenzen gibt? Dieser Frage geht Björn Müller, Dozent an der Uni St. Gallen, in seinem Keynote-Referat am Swissbau Innovation Lab on Tour nach. 

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