Nachgefragt

«Die Schweiz als hochtechnologisiertes Land muss ihre Klimaverantwortung wahrnehmen.»

«Klima und Energie» lautet eines der Leitthemen an der nächsten Swissbau. Auch der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) setzt sich für das Thema ein – unter anderem als Befürworter des Klimaschutzgesetzes.

Laut Co-Präsident ad interim Urs Rieder hat die Baubranche eine gesellschaftliche Verantwortung, kann aber auch von der Vorlage profitieren.

Urs Rieder, der SIA hat vergangene Woche das NZZ-Podium zum Klimaschutzgesetz als Partner unterstützt. Weshalb engagieren Sie und Ihre Mitglieder sich für ein Ja am 18. Juni 2023?

Als Verein haben wir die Vision, uns für einen nachhaltig gestalteten Lebensraum einzusetzen. «Klima und Energie» ist unser aktuelles Fokusthema, weil es eine unglaubliche Dringlichkeit hat. Der Gebäudepark, für den wir uns verantwortlich fühlen, hat einen Anteil von 30 Prozent an allen CO2-Emissionen. Diese müssen auf Netto-Null reduziert werden, auch wenn dies eine Herkulesaufgabe ist. Für den SIA ist klar: Nur mit einer gesetzlichen Basis ist es überhaupt möglich, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb sind wir Mitglied der Allianz «Schweizer Wirtschaft für das Klimagesetz», zu der mehr als 50 Verbände und Unternehmen zählen.

Wie könnte die Bau- und Immobilienbranche vom Klimaschutzgesetz profitieren?

Einerseits von den Innovations- und Förderbeiträgen, die das Gesetz vorsieht. In den nächsten zehn Jahren würde der Bund jährlich 200 Millionen Franken für den Ersatz von Heizungen und für Gebäudesanierungen zur Verfügung stellen. Andererseits bedingt das Netto-Null-Ziel einen Innovationsschub in der Materialisierung, bei Prozessen und in der Kreislaufwirtschaft. Besonders bei der Erstellung von Gebäuden und in der Produktion von Materialien haben wir enorm viel Luft nach oben, da die Bedeutung von beispielsweise klimaneutralen Baustoffen der Branche lange zu wenig bewusst war.

Die Vorlage fordert unter anderem, dass die Schweiz ihre Netto-Treibhausgasemissionen bis 2050 auf null reduziert. Ist das überhaupt möglich?

Grundsätzlich schon. Aber es ist ganz klar eine Frage des politischen Willens, des Commitments und der gesellschaftlichen Verantwortung. Die Schweiz als hochtechnologisiertes Land darf sich nicht vor dieser Aufgabe drücken. Wir sollten es als Chance sehen, auf Basis dieser Vorgabe neue Innovationen hervorzubringen, die unserem Land dabei helfen, weiterhin an der Spitze zu bleiben.

Was sind die grössten Herausforderungen in der Planung von Gebäuden und bei den Anlagen selbst, wenn wir über die Klimakrise sprechen?

In der Praxis fehlen oftmals die zwingenden gesetzlichen Vorgaben. Häufig müssen wir den Bauherrschaften zuerst erklären, wie ein klimafreundlicheres Vorgehen aussehen könnte. Wenn das Commitment von allen Beteiligten hingegen vom ersten konzeptionellen Schritt an da ist, haben wir heute schon sehr gute Möglichkeiten. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Herstellung. Während wir beim Betrieb von Gebäuden bereits wissen, welche Massnahmen wirksam sind, wäre der Handlungsspielraum im Bau noch riesig. Ich denke hier zum Beispiel an Materialien, Strukturen, Wohnungstypen und an den Umgang mit bestehenden Bauten sowie dem Weiterbauen am Bestand – dort müssten wir den Hebel ansetzen.

Welche Hindernisse gibt es bei der Umsetzung?

Der Fachkräftemangel ist ein sehr grosses Hindernis für die Branche. Wie sollen wir die Ziele umsetzen, wenn die richtigen Leute fehlen? Sämtliche Versuche, mehr Frauen für das Bauwesen zu begeistern, sind bisher gescheitert. Das Bauen hat grundsätzlich ein schlechtes Image: Es gilt als dreckig und anstrengend. Zudem sind die Einsatzzeiten nicht familienfreundlich und Teilzeitarbeit ist schwierig. Hier braucht es neue Ideen und Konzepte sowie die Bereitschaft, dass gewisse Arbeitsschritte zugunsten besserer Bedingungen mehr kosten dürfen.

Wo liegen die Chancen einer klimafreundlicheren (Bau-)Zukunft?

Es gibt heute schon viele Firmen, die nachhaltiges, klimaneutrales Handeln in ihren Leitbildern haben. Wenn Unternehmen etwa auf energieeffiziente Bauten setzen, können sie dies in der Kommunikation und Vermarktung verwenden. Unsere Aufgabe ist es, den Firmen zu zeigen, dass gerade in der Optimierung von Gebäuden enorm viel Potenzial liegt, damit diese ihre Gesamtenergiebilanz verbessern können. Anders gesagt: Wir können alles machen, aber solange wir Gebäude nutzen, die unzulänglich sind, kommen wir nicht auf Netto-Null. Gebäude sind einer der wichtigsten Aspekte bei der Transformation der Wirtschaft auf Netto-Null. Das Ziel muss sein, vermehrt gute und solide Strukturen zu bauen, die eine viel flexiblere Nutzung erlauben und sich niederschwellig anpassen lassen. Davon auszugehen, dass ein Gebäude in den nächsten 20 bis 30 Jahren immer in der gleichen Weise genutzt werden wird, entspricht nicht der Realität.

Können Sie ein Gebäude nennen, bei dem eine solche Umnutzung gut funktioniert hat?

Ein bekanntes Beispiel ist das Felix Platter Spital in Basel, ein Betonhochhaus, das zu einem Wohnbau umgebaut wurde. Das hat fantastisch funktioniert, weil es sich um einen architektonisch unglaublich wertvollen Bau handelt und die Verantwortlichen diesen intelligent umgenutzt haben.

Zurück zum Klimaschutzgesetz: Eines der Hauptargumente der Vorlage-Gegner ist die Stromversorgung. Befürchtet werden vor allem höhere Energiekosten. Wie sehen Sie diese Herausforderung?

Das Risiko einer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus dem Ausland erachte ich als viel höher. Die letzten Jahre haben doch gezeigt, dass wir preislich und existenziell verletzlich sind und nicht sicher sein können, dass uns immer Energie zur Verfügung gestellt wird. Klar ist es eine Herausforderung, mehr Energie selbst zu produzieren. Dafür braucht es einen massiven Umbau in Richtung erneuerbare Energien. Wir sehen das als grosse Chance, schliesslich hat die Schweiz eine gute Basis mit ihren Speicherseen, ihrer Wasserkraft und ihrer zentralen Lage in Europa. Eine institutionelle Einbindung ins europäische Stromnetz ist zudem ein Muss, denn ein autarkisches System wäre unvernünftig.

Wie können Gebäude zur Verringerung des Stromverbrauchs beitragen?

Die Gebäudetechnik kennt eigentlich alle Massnahmen, es braucht nichts Neues. Wichtig ist, dass wir von Beginn an integrale Konzepte entwickeln. Dabei geht es im Wesentlichen um drei Aspekte: Erstens muss der Bedarf an Energie reduziert werden. Entscheidend sind Faktoren wie Tageslicht, sommerlicher Wärmeschutz, das Einbinden der Gebäudemasse und die Platzierung der Fenster. Zweitens braucht es eine effiziente Deckung des Energiebedarfs, den wir über adäquate Gebäudetechniksysteme erreichen. Hier geht es um das Einbinden der richtigen und geeigneten Quellen wie z.B.  Seewasser oder Erdsonden, die für den Betrieb der Wärmepumpe und zum Kühlen verwendet werden können. Drittens spielt die Produktion von Energie auf dem Gebäude selbst eine wichtige Rolle. Es gilt, Dach und Fassade bestmöglich für Photovoltaik zu nutzen – auch bei bestehenden Bauten.

Wie stellen Sie sich den optimalen Gebäudepark im Jahr 2050 vor?

Zunächst müssen wir uns bewusst sein, dass die Veränderung des Gebäudeparks etwas unglaublich Langsames ist. Insofern gibt es keine Hoffnung auf einen radikalen Wandel. Als Branche müssen wir konsequent an der Raumplanung weiterarbeiten. Im Ballungsgebiet sollten wir dicht, aber intelligent bauen. Gleichzeitig müssen wir auf die Biodiversität achten und darauf bestehen, dass unbebaute Flächen unbebaut bleiben. Was Wohnkonzepte angeht, erhoffe ich mir einen Paradigmenwechsel. In den letzten 50 Jahren hat die Wohnfläche pro Person stetig zugenommen. Das ist alles andere als nachhaltig. Mit intelligenten Konzepten können wir den Flächenbedarf pro Person senken, indem wir beispielsweise mehr gemeinsam nutzbare Räume schaffen, ohne jedoch die Wohnqualität zu beeinträchtigen. Im Jahr 2050 dürfen fossile Energieträger ausserdem kein Thema mehr sein und Photovoltaikanlagen müssen auf Neu- und Bestandsbauten Standard sein. Auch das Bewusstsein für zirkuläre Prozesse, Abläufe und Produkte muss bis dann noch tiefer verankert werden.

Das Thema «Klima und Energie» wird die Swissbau 2024 prägen, die der SIA als Leading Partner unterstützt. Weshalb diese Kooperation?

Die Swissbau ist eine hervorragende Plattform für uns. Der Swissbau Focus ist eine Art Melting Pot der Baubranche. Innerhalb weniger Tage treffen wir dort unsere Mitglieder und Partner und können ihnen zeigen, woran wir arbeiten. Dieser Auftritt ist wichtig für uns, deshalb engagieren wir uns schon seit vielen Jahren für die Messe. Persönlich freue ich mich jeweils auf die vielen spannenden Begegnungen, die sich vor Ort ergeben.


Urs Rieder

Urs Rieder ist diplomierter Ingenieur und seit 2000 hauptamtlicher Dozent für Gebäudetechnik an der Hochschule Luzern. Er gehört seit 2013 dem Vorstand des SIA an, aktuell amtet er zusammen mit Alain Oulevey als Co-Präsident ad interim.

Anlässlich eines Forums im Herbst ernannte der SIA «Klima und Energie» zum Fokusthema. Die Delegierten haben dann Ende April einen Klima-Aktionsplan verabschiedet, der über die Ziele des Klimaschutzgesetzes hinausgeht. Damit möchte der SIA seinen Mitgliedern Mittel und Wege aufzeigen, um den Klimaschutz noch schneller und effizienter voranzutreiben.


Das Klimaschutzgesetz

Am 18. Juni 2023 stimmt die Schweiz über das Klimagesetz ab. Beim Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit (KIG), wie das Gesetz eigentlich heisst, geht es im Wesentlichen darum, dass die Schweiz ihre Netto-Treibhausgasemissionen bis 2050 auf null reduziert. Die Schweiz darf also nicht mehr Treibhausgase ausstossen, als durch natürliche Kohlendioxidspeicher wie etwa Wälder oder technische Massnahmen absorbiert werden kann.

Beim KIG handelt es sich um den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative. National- und Ständerat hatten den Gegenvorschlag im September 2002 verabschiedet, woraufhin die SVP das Referendum ergriffen hat. Deshalb kommt es nun zur Volksabstimmung.