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«Bauen mit Holz und Lehm sollte zur Normalität werden»

Wie gelingt es der Schweiz, bis 2050 die Treibhausgasemissionen auf netto null zu reduzieren? Die Expertin Barbara Sintzel erklärt im Interview, welche Massnahmen infrage kommen und welche Hürden noch zu meistern sind.

Noch etwas mehr als 25 Jahre hat die Schweiz Zeit, um ihr Klimaziel zu erreichen: Bis 2050 will sie netto keine Treibhausgase (THG) mehr emittieren. Das bedeutet, dass in allen Bereichen die Emissionen stark reduziert werden müssen. Gefordert ist nicht zuletzt der Immobiliensektor: Er hat es in der Hand, die Gebäude möglichst rasch klimaneutral zu betreiben und die grauen Emissionen bei der Erstellung deutlich zu senken. Wie das gelingen kann und welche Herausforderungen noch zu meistern sind, erklärt Prof. Barbara Sintzel. Sie leitet das Institut «Nachhaltigkeit und Energie am Bau» der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und ist dort auch als Dozentin tätig.

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Wer mit Lehm und Holz baut, kann die Treibhausgasemissionen für die Erstellung eines Gebäudes deutlich reduzieren. (Foto: Ruch & Partner Architekten AG, St. Moritz)

Barbara Sintzel, das Schweizer Klimaziel ist klar definiert: Netto null THG-Emissionen bis 2050. Ist auch der Weg dorthin schon bekannt?

Zwar hat der Bund bereits eine Strategie, wie er Netto-Null erreichen will. Dazu hat er mit der Strategie 2021 auch einen Absenkpfad vorgestellt, der vorsieht, dass bis 2040 rund die Hälfte aller Treibhausgasemissionen vermieden werden sollen. Doch es zeichnet sich ab, dass sich nicht alle Emissionen bis 2050 komplett reduzieren lassen, etwa in der Landwirtschaft oder in der Industrie. Um diese zu kompensieren und eine ausgeglichene Treibhausgasbilanz zu erreichen, müssen sogenannte Negativemissionstechnologien eingesetzt werden. Dabei handelt es sich um natürliche und technische Massnahmen, um CO2 aus der Atmosphäre zu entnehmen und langfristig zu speichern.

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Barbara Sintzel, Leiterin des Instituts «Nachhaltigkeit und Energie am Bau» an der FHNW. (Foto: FHNW)

Im Gebäudesektor liessen sich die THG-Emissionen seit 1990 immerhin bereits um rund einen Drittel senken. Wie ist das gelungen?

Durch die Sanierung von Altbauten, Massnahmen im Bereich der Energieeffizienz, effiziente Neubauten und durch den Einsatz von erneuerbaren Energieträgern konnten die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 6,7 Millionen Tonnen reduziert werden. Das war ein wichtiger erster Schritt. Doch gemäss dem Strategiepapier «Gebäudepolitik 2050+» der EnDK ist der Gebäudepark mit 87 TWh pro Jahr nach wie vor rund 45 Prozent des Energieverbrauchs verantwortlich. Diesen Verbrauch und die damit verbundenen Emissionen gilt es zu senken, wobei vor allem der Heizenergiebedarf und die Warmwassererzeugung im Vordergrund stehen, denn dort kommen nach wie vor überwiegend fossile Energieträger zum Einsatz.

Was braucht es, damit Gebäude bereits heute emissionsfrei betrieben werden können? Welche Hürden bestehen noch?

Es empfiehlt sich, in einem ersten Schritt die Gebäudehülle zu sanieren, denn so lässt sich die Immobilie mit tieferen Temperaturen beheizen. So können die erneuerbaren Heizsysteme wie beispielsweise eine Wärmepumpe effizient eingesetzt werden. Ideal ist die Kombination mit Photovoltaik an der Fassade oder auf dem Dach. Ebenfalls wichtig: Wenn eine fossile Heizung ausfällt oder ersetzt werden muss, sollte man ein erneuerbares Heizsystem realisieren. Eine Hürde sind die höheren Investitionskosten solcher Lösungen, doch in der langfristigen Perspektive lohnen sich erneuerbare Heizungen auch finanziell, weil die Energiekosten meist deutlich tiefer ausfallen. Daneben bremsen der Fachkräftemangel sowie Lieferengpässe einen schnelleren Übergang zum klimaneutralen Betrieb.

Emissionen aus der Erstellung von Immobilien dürften schwieriger zu vermeiden sein. Welche effektiven Hebel stehen heute schon zur Verfügung?

Diese sogenannten grauen Emissionen fallen vor allem dann an, wenn neu gebaut wird. Dabei leisten wir uns in der Schweiz häufig den Luxus, noch gut funktionierende Gebäude rückzubauen und zu ersetzen. Wenn es uns stattdessen gelingt, den Bestand zu sanieren und mit Aufstockungen und Erweiterungen zu entwickeln, ist das bereits ein wichtiger Beitrag. Ein weiterer Aspekt ist der Flächenverbrauch pro Kopf, der in den letzten Jahren massiv zugenommen hat und zu mehr Emissionen führt. Dem können suffiziente Konzepte wie flächeneffiziente Grundrisse, Mehrfachnutzungen oder ein optimierter Technikeinsatz entgegenwirken. Bei der Materialisierung sollen künftig Baustoffe mit hohen grauen Emissionen – beispielsweise Beton, Metalle und Glas – nur noch dann eingesetzt werden, wenn keine Alternative vorhanden ist. Bauen mit Holz und Lehm sowie weiteren biogenen Baustoffen muss zur Normalität werden, denn diese verursachen kaum THG-Emissionen.

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Biogene Baustoffe wie diese Lehmfliese müssen zum Standard werden, um die Treibhausgasemissionen in der Erstellung reduzieren zu können. (Foto: www.handgeformt.de)

Wo braucht es technische Weiterentwicklungen, um die Emissionen komplett zu reduzieren?

Gerade bei den Baustoffen mit grosser Umweltwirkung braucht es neue Verfahren, um bei der Herstellung Emissionen zu vermeiden. Die Suche nach Alternativen für den CO2-intensiven Zement ist beispielsweise voll im Gange. Gefragt sind jedoch auch neue Produktionsverfahren, die mit erneuerbarer Energie funktionieren. Zudem verdienen die erneuerbaren Baustoffe und die Wiederverwendung von Bauteilen mehr Beachtung. Da braucht es noch mehr Know-how in der Handhabung, Überlegungen zur Qualitätssicherung und Innovationen, damit sich diese Ansätze verbreitet etablieren.

Welche Konzepte sind vielversprechend, um Gebäude zu Kohlenstoffspeichern zu machen?

Wird mit Holz und erneuerbaren Baustoffen wie Stroh, Schilf, Mycel (Pilzfäden) und Hanf gebaut, ist der in der Biomasse gebundene Kohlenstoff im Gebäude eingelagert. Die Frage ist allerdings, wie lange die Immobilie erhalten und das CO2 gespeichert bleibt. Ausserdem gibt es verschiedene Ansätze, wie man Kohlenstoff in Beton binden kann. Um das generell zu empfehlen, braucht es jedoch erst weitere wissenschaftliche Erkenntnisse.

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Mit dem neuen Tool «greenBIM» können Architektinnen und Planer Nachhaltigkeitsaspekte in ihrer gewohnten Planungsumgebung bewerten und optimieren. (Grafik: FHNW)

Wie unterstützt die FHNW das Ziel Netto-Null im Bausektor?

Unser Ziel ist, verschiedene Konzepte des nachhaltigen Bauens zu vereinen: Kreislaufwirtschaft, Netto-Null, Schadstofffreiheit, gesundes Innenraumklima und effiziente Gebäudetechnik. Ferner forschen wir an Low-tech-Systemen und haben dazu auch ein neues Prüflabor in Betrieb genommen. Im Bereich des zirkulären Bauens sind wir daran, ein Lehmlabor aufzubauen. Zudem analysieren wir in mehreren Forschungsprojekten die Wiederverwendung von Bauteilen. Dabei stehen aktuell Fenster und Betonbauten im Fokus. Auch neue Planungsmethoden interessieren uns. So haben wir mit «greenBIM» ein Programm entwickelt, bei dem wir Umweltwirkungen bereits in einer frühen Planungsphase sichtbar machen können.

Gibt es auch Bestrebungen, dem Fachkräftemangel zu begegnen?

Wir führen an der FHNW eine Reihe von Weiterbildungen in den Bereichen nachhaltiges Bauen, Energieeffizienz und zirkuläres Bauen durch. Auch in der Ausbildung engagieren wir uns: Ab Herbst 2024 bieten wir den Bachelor-Studiengang «Energie- und Umwelttechnik» mit der Studienrichtung «Nachhaltige Gebäude und Städte» neu auch am Campus Muttenz an.